Weiter geht's mit den "Digital-Kids"

Aus meiner Diplomarbeit in Heilpädagogik 2005

Die neuen Kinder und ihre neue Krankheit

 

Wie Wolfgang Bergmann (1944-2011) die Digitalkids beschreibt

(Bergmann-Zitate sind kursiv und schwarz gedruckt!)

 

"Manche Kinder und Jugendliche erreichen wir einfach nicht mehr. Das gilt für viele der essgestörten Mädchen auf der Suche nach der totalen Perfektion und Kontrolle, die sie gegen ihren eigenen Körper wenden. Das gilt noch häufiger für die Jungen, die in ihrer Welt keine Ordnung und kein soziales Zuhause mehr finden und sich mit omnipotenten Träumen, aus digitalen Kino- und Computerspielbildern genährt, aus der Wirklichkeit zurückziehen, um eine andere Wirklichkeit aufzusuchen: eine mediale, die eindrucksmächtig ist, die alle Sinne umfängt und die jungenhaften Allmachts- und Destruktionsträume nicht widerlegt, sondern bekräftigt.

 

Die Wahrheit ist, dass sich unsere Gesellschaft und Kultur in ihrem „Gewebe“, in den Falten des Alltags auf eine Weise gewandelt hat, die unseren Kindern nicht guttut. Sie lernen Sinn und Ordnung nicht ausreichend. Auch nicht einen selbstverständlichen Gebrauch ihrer Sinne.[1]"

 

Die Umwelt des heutigen Kindes ist nicht gut genug, sagt Bergmann. Da können unsere Kinder ihre Säuglings- und Kleinkindphase durchaus noch gut genug erlebt haben, Tatsache ist, dass in den digitalen Medien eine Wucht und ein seelenzerstörendes Potential verborgen liegt (nicht nur das, ich weiss), was es ausserhalb des Elternhauses in solcher Unüberschaubarkeit und Ungeschütztheit vermutlich noch zu keiner Zeit gegeben hat. Die Entwicklung des Computers und seine weltweite Vernetzung machen es möglich. Es ist erstaunlich und bedrohlich zugleich, dass die modernen Medien es offensichtlich schaffen, Kinder und Jugendliche über die Cyber-Welt im Internet und bestimmte Arten von Games exakt in jene Entwicklungsphase zurück zu lotsen, die allein für den Lebensanfang bestimmt ist: die Phase der Rundumversorgung oder Omnipotenz. Auch dann ist das offenbar möglich, wenn Kinder in ihrer frühen Kindheit gut genug versorgt worden sind. Beispiele aus dem Bekanntenkreis ergänzen treffend jene aus Bergmanns Literatur dazu.

 

Bis anhin wurde durch die Psychologie eigentlich vermittelt, dass überall da, wo die ganze Vorschulzeit  hinreichend gut verlief, es in späteren Kindheitsjahren nur in relativ seltenen Fällen dazu führt, dass Kinder so stark retardieren und mit dem Leben nicht mehr recht klarkommen. Sehr traumatische Erlebnisse können in jeder Lebensphase dazu führen. Aber die Regel war das bisher nie. So verstand ich das. Die Medienkindheit – und in ihr das angeschossene Kind – bringen einem etwas ganz Neues bei: Den modernen Medien gelingt in fast rauen Mengen etwas, was so noch nie da gewesen ist: Schulkinder und Jugendliche in die Phase der Illusion oder Omnipotenz zurückzustossen - und das inner-seelische und soziale Chaos wird perfekt!

 

Die neue Kinderkrankheit zeigt nach Bergmanns Beschreibungen verblüffend viele ähnliche Symptome, wie das bekannterweise sehr oft später bei Kleinkindern der Fall ist, die depriviert (verwahrlost) aufgewachsen sind:

 

  •       Bei geringsten Anlässen verliert das Kind die Fassung
  •       Es fängt an zu schreien oder schlägt wild um sich
  •      Schon geringfügige Störungen seiner Pläne oder Wünsche fasst es als     persönlichen Angriff auf und setzt sich zur Wehr
  •       Es ist ungeduldig in der Verfolgung seiner Ziele – ein Getriebenes
  •       Es ist heftig, wenn ihm Wünsche versagt bleiben
  •       Wenn es nicht das Zentrum ist, flieht es
  •       Es fühlt sich allein wohler
  •       Eine Welt, die sich seinen Wünschen nicht fügt, erträgt es schwer

 

Klassische Folgen frühkindlicher Deprivation! Es gäbe noch den andern Fall des weniger vitalen Kindes zu beschreiben, darauf verzichte ich jetzt. Wichtig zu wissen ist, dass ich diese Symptome nicht etwa in einem Buch von John Bowlby abgeschrieben habe, der sich differenziert mit solchen deprivierten Kindern auseinandersetzte. Nein, Wolfgang Bergmann [2] beschreibt so und ähnlich viele seiner heutigen Digitalkids, die oft nicht aus einer frühverwahrlosten Kleinkinderzeit stammen! Das muss Heilpädagogen und Therapeuten einfach aufhorchen – und aufschrecken lassen!

 

Daraus kann fast logisch gefolgert werden: die neue Kinderkrankheit, die in ihren Symptomen praktisch nicht von den Folgen frühkindlicher Deprivation zu unterscheiden ist, heisst dann eben „spätkindliche Neo-Deprivation“!

 

 So jedenfalls würde ich das nach allem, was ich gelesen habe, mit Überzeugung nennen. Und diese Krankheit wird schier scharenweise ausgelöst durch die „postmoderne Gouvernante Computer“ (sehr gut gestützt durch ihren „Vater Fernseher) welche ein äusserst unheimliches Kindermädchen ist. Es hält bereits angereifte Kinder von einem bisher ziemlich üblichen, linearen Entwicklungsprozess von Phase zu Phase ab. Vielmehr: Es schmettert die Kinder subtil und doch so unbarmherzig hart zurück an jenen Entwicklungsort, den sie vor Jahren mit offenbar nur vermeintlichem Erfolg bereits verlassen hatten! Ich finde keine Worte, wenn ich an die ungeheure Wucht denke, die diesem verführerischen Kindermädchen des 21. Jahrhunderts innewohnt – und das wird von viel zu vielen „Grossen“ nicht entlarvt.

 

Wer hat die besseren Chancen?

Frühverwahrloste Kinder schaffen es sehr selten, sich einigermassen gesund von Phase zu Phase zu entwickeln, da ihre Grundbedürfnisse in der sensibelsten Phase ihres Lebens ungenügend gestillt wurden. Sie sind von Anfang an mindestens in ihrer emotionalen Entwicklung sozusagen zuvorderst stecken geblieben. Die Neo-Deprivierten aber entwickelten sich oft nahezu linear und mehr oder weniger erwartungsgemäss – bis sie sich eines Tages als Medienkinder ganz plötzlich wieder an ihrem seelischen Anfang befinden – und dort festsitzen! Einfach verrückt. Nun kann man noch nicht wissen, ob Neo-Deprivierte dann auf’s ganze Leben gesehen doch die besseren Chancen haben, dennoch eine gute Lebenskurve zu kriegen, als es leider oft bei vielen Frühverwahrlosten der Fall ist. Immerhin existiert bei ihnen eine Erinnerung an einmal bewältigte Phasen; das müsste ein Vorteil sein. Ob dieser allerdings durch Medien-Überkonsum zerstört werden kann, wird sich erst noch weisen. Dazu müssen noch einige Jahre mehr Geschichte ins Land ziehen. Wir stehen ja erst am Anfang der Neo-Deprivationsentwicklung. Es wird auf alle Fälle sehr spannend werden, dieser Frage schrittweise weiter nachzugehen.

 

Gefangen im Netz

Es ist geradezu gelinde ausgedrückt, wenn Bergmann schreibt, das Mediale (also, das „zärtliche“ Kindermädchen „Compi“ und Co.) würde alle Sinne umfangen. Umfangen zu werden ist doch eigentlich wohltuend und in jeder Hinsicht förderlich. Welcher Mensch sehnt sich nicht danach?

 

Aber handelt es sich hier nicht vielmehr um eine perfid verführerische Art von Umfangenwerden, die bei Licht besehen ein Einfangen, ein Gefangennehmen, ein Erdrosseln der wunderbaren Sinne und Seele jener Kinder ist, die es nicht schaffen, einen weisen, ihrer Psyche förderlichen Umgang mit modernen Medien einzuüben?

 

Fehlen ihnen nicht auch Vorbilder, bei denen sie dies lernen könnten? Darüber muss im Dienst am Kind ehrlich nachgedacht und verantwortlich gehandelt werden, immer wieder neu.

 

Das einleitende Zitat dieses Kapitels ist in Bergmanns Buch „Digitalkids“ unter folgendem, eindrücklichen Kapitel zu finden:

Das kindliche Ego – verirrt im Niemandsland der Computerspiele…

 

Bergmann beschreibt dieses Niemandsland so:

 

Der Spieler im Netz: Er ist ein Code unter anderen. Er gibt mit jeder Aktion eine Information in ein Netz von Informationen ein, das sich ihm nie vollständig erschliesst. Zwar wächst von Handlung zu Handlung sein Wissen um das Ganze des Spielverbundes, aber dieser wächst zugleich mit dem Wissen und mit all den anderen gleichzeitig eingehenden Informationen auch; das Netz ist ihm immer voraus, ist immer mehr, als ein Spieler wissen kann. Kein sicherer Bestand des Wissens, kein Ort, nirgendwo. Der menschliche Geist im Netz kann sich immer nur als Teil eines ihn unaufhörlich überschreitenden Prozesses begreifen.[3] (Hervorhebungen durch die Autorin)

 

Letzteres allein müsste ja nicht beunruhigen, sofern die Quelle, die den Menschen in einen ihn unaufhörlich überschreitenden Prozess hineinnimmt, eine von Grund auf wohlwollende wäre. Eine, die ihn fördert, seinen Charakter stärken und ihn auch seelisch aufbauen möchte. Eine solche Quelle ist nach jüdisch-christlicher Anthropologie Gott. Der Schöpfer des Universums, und es wäre bitter enttäuschend von ihm, wenn er des Menschen Verstand nicht weit übersteigen und übertreffen würde. Dann verdiente er nicht Gott zu sein. Nur, mit einer solchen verlässlichen, dem Menschen durch und durch zugeneigten, ihn aufbauen wollenden Quelle haben wir es in der digitalen Welt leider nicht zu tun. Sie äfft zwar erbärmlich nach, was lange schon existiert und durchaus von kostbarem Wert sein könnte. Aber ihre Grundlage ist mit jener des Schöpfers schlicht nicht zu vergleichen. Das Internet ist leider nicht weltweit „Inter-nett“! Zu viele Köche verderben den Brei!

 

Der „Spieler im Netz“ – man stelle sich dies einmal bildhaft vor – das kann einem ohne weiteres unter die Haut gehen:

Der Spieler im Netz – wosonst? Das gilt freilich und Gott sei Dank nicht für jeden, der das Netz benutzt – aber die Gefahr, vom Netz so gefangen zu werden, wie dieses Bild veranschaulicht, besteht Tag für Tag und rund um die Uhr, und wird besonders für Kinder und Jugendliche gross sein, deren Charakter in der Regel noch alles andere als Festigkeit und Stärke zeigt, zeigen kann. Ihnen oder ihren Seelen kann dann schon der Lebensatem abgewürgt werden, seelisch meine ich. 

 

Abbildung aus dem Internet

 


[1] Bergmann, Wolfgang; Digitalkids, S. 175

[2] Nach Bergmann, Wolfgang; Erziehen im Informationszeitalter, S. 12

[3] Bergmann, Wolfgang; Digitalkids, S. 90/91

 

Weiter im Text ...

Ich lasse Bergmann weiterschreiben:

 

„Bei den Kontakten im Internet ist das Du von Anfang an „entwertet“. Es ist ja eine reine Funktion, auf die Beiläufigkeit reduziert, mit der ich es im Netz antreffe. Ein Mausklick, eine Bewegung der Fingerspitzen genügt, und es verschwindet, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Mein digitales Du ist nur ein möglicher Kontakt in einer Reihe vieler möglicher Kontakte, die ich alle beliebig und in schneller Folge (fast gleichzeitig) aufrufen kann.

An dieser Stelle fallen mir automatisch die „Kontakter“ Ralph, Philipp, Dennis und Bernd aus Teil 1 (Was sich drastisch verändert hat) ein. Keine treuen, tragfähigen Freundschaften entwickeln sich beim Medienkind – es handelt sich um lauter austauschbare, daher entwertete Kontakte…  

Ich brauche den anderen nicht! Er ist mir nicht notwendig. Es gibt nämlich keine „Not“ und keine „Notwendigkeit“ im Netz, sondern überall Überfluss, ein Überangebot, eine Überversorgung (alles ist übermässig, über jedes Mass hinaus vorhanden). Keine der Möglichkeiten hinterlässt eine prägende Erfahrung, eine bedrückende Einsicht, keine hat auch nur die Spur von Unausweichlichkeit. In der realen Welt ist das anders.[1]

 

Bergmann hat das alles, was er hier beschreibt, selbst erprobt, um hinter die Oberfläche des Internets zu kommen. Solche Erfahrungen fehlen mir weitgehend, daher kann ich nicht beurteilen, ob das stets so zutrifft, wie er schildert. Wiederum wird es tendenziell so sein, vermute ich. Die Frage bleibt offen, ob es nicht auch eine prägende Erfahrung sein könnte, wenn am Ende eines Internet-Abends dann eben nichts anderes als Leere zurückbleibt? Oder sind heutige Kinder und Jugendliche nicht mehr fähig, Leere als leer wahrzunehmen? Möglicherweise machen sich nur ältere Generationen Gedanken darüber, weil sie den Gegensatz noch kennen?

 

Bergmann vergleicht: 

„In jede Bewegung, die ich in meinem alltäglichen Leben unternehme, spielt Vergangenheit hinein. Immer bin ich in allem, was ich erlebe, an meine Erinnerungen gebunden. Immer bin ich nur dieses festgezimmerte „Ich“ und kann nicht hinaus! Aber meine Biografie mit all den übermächtigen Gestalten der Kindheit – Vater, Mutter, Lehrer und andere Autoritäten – ist an bestimmte Realitätsbedingungen geknüpft. Wo diese zurückgedrängt werden, wo Zeit und Raum und Körperlichkeit keine Rolle mehr spielen (im Netz! Ergänzung durch Autorin) in der Hektik von ganz anders gearteten, immer neu auf mich einstürzenden Kommunikationen, da erfasst mich ein Gefühl von Bindungslosigkeit. Es ist ein befreites Gefühl, es reisst mich für unbestimmte Dauer aus den Fesseln der Vergangenheit und bindet mich in eine andere Zeitform – die eigenartige Zeit des Digitalen. [2]

 

Eine neue Zeitform im neuen „Paradies“

Keine Vergangenheit, keine wirkliche Zukunft, immer nur das Jetzt – und diese neue Zeitform könnte sich dann „Digitalheit“ nennen, in der es keine instabilen, verletzlichen Gegenüber gibt, wo der Spieler selbst also auch nicht mit Verletzung rechnen muss. Es ist unbestreitbar, dass sich jeder Mensch nach einer Welt sehnt, in der es keine Angst, keine Sorge, keine Verletzung, kein Leid mehr gibt. Das ist die Ursehnsucht des Menschen, seit er das einstige Paradies verlassen musste. Diese Sehnsucht nach ewiger Freude, ewigem Frieden erwirbt man sich nicht, sie ist in uns hineingelegt worden:

 

He has made everything beautiful in its time. He also set the eternity in the hearts of men; yet they cannot fathom what God does from beginning to end. (to fathom = loten, ergründen)

Prediger 3/11 (The New Internationel Version)

 

Alles hat Gott schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt, nur dass der Mensch das Werk nicht ergründet, das Gott getan hat, vom Anfang bis zum Ende. 

Prediger 3/11 (Elberfelder)

 

Die virtuelle Welt nun bietet dem postmodernen Kind/Menschen etwas an, das vordergründig betrachtet nach so was Ähnlichem, wie jenem neuen Paradies aussieht, das der Mensch verloren hat: keine Grenzen, keine Vergangenheit, keine Zukunft, immer nur jetzt und eine „Rundum-Versorgung“ – die Frage ist nur, womit? Wer diese Welt – jedenfalls manch ein ihr zugehöriges „Kuchenstück“ – genauer untersucht, wird feststellen müssen, dass diese Welt weit entfernt von einem paradiesischen Zustand ist. Das ist sehr leicht daran zu erkennen, dass das „virtuelle Paradies“ ausgesprochen viel Unfrieden, Aggressionen, ADHS und seelische Leblosigkeit wirkt! Vom wahren Paradies erwarte ich das pure Gegenteil! Das Festsitzen im „virtuellen Paradies“ drückt demnach nichts anderes aus, als eine fehlgeleitete Sehnsucht des Menschen nach Ewigkeit! Eben: Gefangen im Netz!

 

Ähnlich im Computerspiel

 

Der kleine Junge, der sich spielend und schauend in imaginäre Szenarien einbinden lässt, muss immer alles im Auge haben, aus jeder Ecke, jedem Winkel und Versteck könnte jederzeit Gefahr hervorbrechen. Er muss die Gesamtheit aller Vorgänge aufnehmen, nie nur einen Punkt, eine Figur fixieren, wie die alte Vernunft es gelehrt hat – er muss vieles gleichzeitig zur Kenntnis nehmen und zugleich daran denken, dass das Ganze während des Spiels und durch sein Spiel unaufhörlich verändert wird.

Immer alles, jeder, jedem, aller, vieles gleichzeitig, und zugleich, unaufhörlich…! Wären diese Worte Teil eines Stelleninserates, so würden sich auf eine solche Stelle hin vermutlich lediglich Hochstapler zu bewerben wagen! Dabei muss es sich zweifellos um Supermenschen handeln, die dermassen viele solche absoluten Anforderungen erfüllen können. Die Digitalkids schaffen es, zumindest im Netz – aber für anderes bleibt dann verständlicherweise eben nicht mehr viel übrig.

Wer so spielen kann und will, der hat seinen Spass nicht mehr – wie in früheren Jungenspielen – daran, dass er alles kontrolliert, dass er „die Sache im Griff“ hat. Das eben nicht. Er hat vielmehr seinen Spass daran, dass er sich reaktionsschnell und –sicher in die Weite der undurchschaubaren Bilder der Bildkomplexe einsinken lässt und von ihnen, während er spielt, weitergetrieben, getragen wird. Es ist eine merkwürdig funktionssichere und passive Lust, die in diesen Spielen wirkt.[3] (Hervorhebungen durch Autorin) 

So ist es vielleicht wirklich für jene, die nebst den willkommenen Möglichkeiten mit den Gefahren des Computers nicht so umgehen können, dass ihre Seele geschützt und daher gesund bleibt.

 

Schutz wird hier ja gerade nicht angeboten – jeder muss ihn sich selber bauen, ihn selber sein. Das ist eine der ganz grossen Herausforderungen moderner Medien an ihre Benutzer.

 

Und hierin sind ganz bestimmt Kinder meist wirklich heillos überfordert! So bringt unsere Kultur zunehmend mehr Getriebene, Gehetzte, Gesteuerte hervor! Ein Getriebener aber steht unter einer fremden, nicht menschenfreundlichen Macht, ganz egal, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht.

 

"Dieser kleine Junge, der vor dem Monitor hockt und Abenteuer erlebt, ist ein geistiger Nomade. Er kennt das Ende der Bildwelten so wenig wie ein Nomade die Grenzen der Wüste. Nicht die Väter, nicht die Vertreter der Vernunft, der Werte, des Ethos, sind Vorbilder, an denen er sich orientiert. Das Medium selbst ist Vorbild, Leitbild und lehrt ihn die Lust an der nomadischen Existenzweise der Männerkultur von morgen (und heute). Und stattet ihn bei jedem Spiel mit ungezählten narzisstischen Impulsen und Verstärkungen aus, die ihn für die neue Zukunft fit machen. [4]"

 

Nicht Menschen, die Hände und Füsse haben, sind die Vorbilder der Medienkinder – sondern das Medium selbst. Das heisst dann nichts anderes, als dass es diesem Medium gelingt, die Autorität der Erwachsenen zu unterwandern, ja zu übernehmen. Wer sind dann Menschen noch neben diesen allmächtigen, eben omnipotenten Maschinen, wenn diese klammheimlich die Regie übernehmen? Ganz und gar ungemütliche Gedanken! Und erinnert der geistige Nomade nicht an den Abgemeldeten, Eingeklemmten im Postauto? Ein Nomade, ständig unterwegs, innerlich und oft genug auch äusserlich auf Trab; einer, der niemals DA sein kann. Und DORT? Kann er denn dort sein – oder gelingt ihm nur der Trab? Und was ist das bloss für eine höchstmerkwürdige „Fitness für die Zukunft“, von der im obigen Zitat die Rede ist? Fit für die reale Zukunft wird dieser Junge jedenfalls nicht werden? Fragen über Fragen…

Nun ist bereits bekannt, dass jedes Kind ganz am Anfang seiner Lebensreise gewissermassen eine narzisstische Phase oder die Phase der Omnipotenz durchläuft, sofern es ganz nach seinen jeweiligen Bedürfnissen gepflegt wird. Hier hat Narzissmus, den Margaret Mahler in ihrem Buch „Die psychische Geburt des Menschen“ „primärer Narzissmus“ nennt, seine Berechtigung. Hier darf und muss er sein. Diese Phase ist auf zwei Ziele ausgerichtet :

  • Erstens, in der Seele des Kindes durch eine anfängliche „Rund-um-die-Uhr-Versorgung“ sein Urvertrauen zu stärken,
  • damit zweitens im Anschluss daran die Phase allmählich zumutbarer Frustrationen eingeläutet werden kann. Nur auf dem Hintergrund erfahrener Omnipotenz zur rechten Zeit - ab Geburt in den ersten Lebensmonaten - wird der neue Erdenbürger langsam fähig, das Spannungsfeld zwischen Ja und Nein, zwischen Weiss und Schwarz, zwischen Freiraum und Grenze, zwischen Freud und Leid zu ertragen und anzunehmen. Kurz und gut, sich mit der Tatsache eines ihn beleidigenden Realitätsprinzips allmählich zu versöhnen und einzuwilligen.

 Ich vertrete die Ansicht, der Hauptgrund, warum der Säugling in seiner Entwicklung gewöhnlich fähig wird, das Es (seine Triebe) zu beherrschen, und warum das Ich lernt, das Es einzubeziehen, sei die Tatsache der mütterlichen Fürsorge, die Tatsache, dass das Ich des Säuglings durch das Ich der Mutter vertreten und so kraftvoll und stabil gemacht

wird.[5](Klammer durch die Autorin)

Der Höhepunkt der narzisstischen Phase findet nach Margret Mahler irgendwo um den 12. Lebensmonat statt. Jedes Kind hat seinen eigenen „Fahrplan“. Das eine erreicht diesen Höhepunkt früher, das andere später. Aber irgendwo um die Einjährigkeit herum beginnt das grosse Abschiednehmen von der frühkindlichen Omnipotenz, was damit zusammenhängt, dass das Kleinkind inzwischen gelernt hat, auf eigenen Beinen zu stehen. Von da an kommt das Umfeld nicht darum herum, innerhalb des kindlichen Freiraums auch Grenzen zu setzen, wenn es das Kind liebevoll fördern will. Ja, Grenzen setzen hat eben gerade nichts mit Lieblosigkeit zu tun, wenn der Erwachsene sein Kind auf dem Herzen trägt. Das Kleinkind macht so die wiederum nötige und seinem Reifungsprozess angepasste Erfahrung, dass es nicht allmächtig ist. Das durfte eine Zeitlang sein, jetzt aber weht ein neuer Wind in seinem Leben, durch den es zur Lebenstüchtigkeit erstarken soll.

 

Wo moderne Kinder „heimisch“ sind

 

"Offenbar summieren sich für Kinder und Jugendliche die Umwelteindrücke und ihre Medienerfahrungen zu Wahrnehmungs- und Denkvorgängen, die von den unseren deutlich unterschieden sind. Was schnell geht, in sich „different“ ist, erzwingt ihre Konzentration. Was behutsam, Schritt für Schritt „linear“ vorgetragen wird, bereitet Probleme. Was von Rhythmuswechsel und einer Ästhetik der „Plötzlichkeit“, des Unerwarteten geprägt ist, findet Aufmerksamkeit; dagegen langweilt alles, was rational und vorhersehbar erscheint, was schlüssig auseinander hervorgeht, sehr rasch.

Wir erkennen in dieser Skizze eine Erlebnisweise wieder, die sich in den modernen Filmen und TV-Serien ebenso zeigt wie im Pop-Entertainment, den Techno-Nächten und besonders in den neuen Erfahrungen mit Computer und Computerspielen.

 

Moderne Kinder sind heimisch zwischen Schock und Trance. Rascher Wechsel und eine Komplexität, die aus Brüchen hervorgeht, prägen Sozialerfahrungen. Brüche, Wechsel, das intuitive Balancieren entlang dieser Grenzen – das ist der seelische und intellektuelle Alltag unserer Kinder.

 

Es gibt bisher keine schlüssige Theorie über die sozialen und medialen Veränderungen, denen Kinder unterworfen sind. Man weiss beim besten Willen nicht, wie man die mediengelenkten Kinder mit ihren komplizierten und unkritischen Mode- und Medien-Inszenierungen zu „selbstbestimmenden Subjekten“ erziehen soll. [6]"

(Hervorhebungen durch Autorin)

 

„Erziehung“ zu profilloser Anpassung und ihre Folgen

 

Was Bergmann hier anklingen lässt, bewegt mich schon seit längerer Zeit. Es ist nicht zu leugnen, dass die Medien spätestens ab Kindergarteneintritt beim Kind einen erschreckend grossen Teil an „Erziehungsarbeit“ übernehmen und offenbar langsam zur „neuen Heimat“ – oder Autorität – des Medienkindes werden. Etwas, das bei den 50er- und 60er-Generationen undenkbar war. Zu ihrer Kindheitszeit war Erziehung bis zum Schulaustritt weitgehend Elternsache! Die wenigsten Eltern von damals hatten eine so aggressive, tägliche, wuchtige Konkurrenz. Obendrein: Man kann bei der Erziehung durch die Medien keineswegs von kindgerechter Erziehung reden – vielmehr ist es eine subtile Abrichtung und Verbiegung der Entwicklungslinie und der Seele des Kindes von heute, was dann eben oft verhindert, dass aus ihm ein selbstbestimmendes, selbstbewusstes Subjekt werden kann. Das muss noch immer Ziel von Erziehung sein; hier dürften auf der Erzieherseite keine Abstriche gemacht werden. Es ist offensichtlich, wer zunehmend über unsere eingeschulten Medienkinder bestimmt: Fernseher und Computer mit seinen vielen Geschwistern, die ebengerade nicht dieses vorrangige pädagogische Ziel verfolgen. Das, was verantwortliche Eltern ihren Kindern mitgeben wollen, wird in einem Fort durch die Angebote dieser Medien unterwandert…, bis hin zu ihrer Autorität! Ein Kampf gegen Armeen!

 

Bergmann stellt weiter fest:

 

"Die tiefsten Faszinationen der Kindheit unterliegen in all diesen Medien und medial geprägten Orten einer neuartigen Strategie der Sensation, einem panoptischen (zentral überwachten) Spektakel, das mit der Erfindung der Telegrafie und Fotografie einsetzte und heute in den digitalen Medien massiv beschleunigt wird, – möglicherweise so sehr, dass die integrative Kraft der kindlichen Psyche darüber zerreisst, dass die Umformung der kindlichen Energien und unbewussten Prozesse im Begriff ist, den gemeinschaftlichen Charakter des kindlichen Individuums aufzulösen. Damit stünde das Überleben einer auf vernunftgeordnete Prinzipien vertrauenden Gesellschaftskultur auf dem Spiel ...[7]" (Hervorhebungen durch Autorin)

 

Kommt einem so vor, als sei hier von einem kranken Kind die Rede – und so ist es wohl auch. Womit hat denn Umformung kindlicher Energien und unbewusster Prozesse zu tun, wenn nicht mit seelischer Krankheit, die unter subtiler Gewaltanwendung zustande kommt? Ein Kind, dessen gemeinschaftlicher Charakter aufgelöst wird, ist kein Beziehungswesen mehr – sondern ein schwerkranker Solist – vielleicht auch nur noch ein  „Gegenstand“. Wo im Kind der gemeinschaftliche Charakter verschwindet, hat der Mensch sein seit tausenden von Jahren existierendes Ziel verfehlt: Ein Selbst in Beziehung zu sein (Winnicott)!

 

Und damit hätten wir dann ein Kind vor uns, das ohne Kindheit, die diesen Namen noch verdient, aufwächst - nicht zuletzt deshalb, weil es nie zu spielen gelernt hat, was etwas äusserst Gemeinschaftliches ist! Und das ist wirklich der grösste Kindheits-Verlust, der nach Winnicott schlicht verunmöglicht, den Weg zur Ganzheit überhaupt beschreiten zu können.

Das heisst im Klartext nichts anderes, als dass es seit dem Aufleben der Medienkindheit nicht mehr möglich sein könnte, dass der Mensch zum Menschen wird, weil er selbst den Menschen mit System zerstört! Man darf hier fast nicht mehr weiter denken…

 

Dieses Kapitel ist noch nicht zu Ende - die Fortsetzung folgt!

[4] Bergmann, Wolfgang; Digitalkids, S. 92

[5] Winnicott, Donald W.; Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, S. 52

[6] Bergmann, Wolfgang; Digitalkids, S. 9/10

[7] Bergmann, Wolfgang; Digitalkids, S. 13

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