Lieber Piep-Matz!
Gestern war ein grosser Tag für dich, denn du hast dich in unserem Kreise wider Erwarten, zu unser aller grösstem Vergnügen so prima entwickelt, dass bei uns das gemeinsame Rätselraten begann, wie wir dich am besten in die Freiheit der Natur entlassen könnten – so, dass du dich davon nicht überfordert fühlen und daher der nächsten Katze ins Gebiss flattern würdest. Fliegen ist noch immer nicht deine Leidenschaft, wenn inzwischen auch deutliche Anzeichen dafür vorhanden sind, dass du dich mit dieser Kunst noch anfreunden wirst.
Du hast uns in den bald zwei gemeinsamen Wochen schrittweise verraten, dass du es nicht mit den Finken am Hut hast; dein Schnabel ist zu fein und spitz dazu, dein Schwanz inzwischen viel zu lang und dein Körper eindeutig zu grazil und feingliedrig gebaut. Du passt definitiv nicht in die Ahnengalerie der Finken oder Meisen. Deine hohen Stelzen - und das schier unermüdliche Wippen mit deinem edlen Ende - machen deutlich, dass deine Vorfahren (oder besser Vorflieger) zweifellos hübsche Bachstelzen sein müssen, die es lieben, in einem Fort nach Insekten zu jagen und zu schnappen. In den vergangenen Tagen aber taten dies andere für dich.
Manch ein Sommer zog bei uns schon ins Land, in welchem wir alle oft stöhnten über die vielen lästigen Fliegen, Mücken und Konsorten, die sich täglich in unser Haus ver(schw)irrten. In diesem Jahr kann es vor allem meinem inzwischen heimgekehrten Gefährten nicht genügend von diesem Kleintier wimmeln! Er hechtet täglich gekonnt und unermüdlich in leidenschaftlichem Eifer durch unser Wohnzimmer (noch immer unverletzt) und übt sich fleissig im „7x5 Meter Fliegenfangen“. Eine Disziplin, die leider bei den olympischen Spielen noch keinen Anklang gefunden hat, weil offensichtlich zu wenig Menschen so akut einen Vogel haben wie wir ... Einen, den man füttern muss!
Wirklich, ein Bachstelzenvater könnte nicht fürsorglicher sein als Gefährte, der dich oft und liebevoll mit irgendeiner sechs- oder achtbeinigen Delikatesse zu beglücken wünscht, was ihm sehr häufig gelingt. Hab mir schon Sorgen um seine Identität gemacht, weiss ich doch um die Möglichkeit der Metamorphose ...!
Vitamintropfen bekamst du meist von deiner neuen Mutter verabreicht. Hackfleisch und Insektenschrot füttern dir auch unsere Buben pflichtbewusst, so oft sie zuhause sind. Wenn sie von der Schule kommen, fragen sie meist zuerst nach dir und deinem Befinden – und ob ich auch ja nicht vergessen hätte, dich zu füttern!
Vogelfreund, durch das Vorbild seines Vaters angeregt, kommt regelmässig mit selbst gefangenen Insekten heim, die er, wie ein kleiner Held nach grosser Schlacht, seinem neuen Freund, dir, lieber Piep-Matz, serviert. Du siehst, wir alle sind seit bald zwei Wochen ziemlich beschäftigt und ausgesprochen glücklich dabei. Du wirst auf’s Beste um- und versorgt bei uns. Nun, da klar zu Tage getreten ist, dass in dir eine Bachstelze am Werden ist, las ich zusammen mit deinem Entdecker in unseren Vogelbüchern alles über deine Gattung nach, was ich nur finden konnte. Klar, um der Art, wie du gerne lebst, besser auf die Spur zu kommen.
Gehörst zu den Halbhöhlenbrütern und hältst dich gerne in Nischen auf! Also gut: du sollst dich bei uns in ein friedliches, geschütztes Eckchen zurückziehen können, wann immer es dir beliebt. Ist dir dazu eine geöffnete Kartonschachtel wohl genug?
Dauerte nicht lange, bis du von dieser kleinen Insel Gebrauch gemacht hast! Tagsüber trafen wir dich immer mal wieder auf dem Dach deiner Papphöhle an, wo du zufrieden ein Nickerchen machtest.
Philosoph hat dich manchmal abends von der Stätte deiner Aufzucht ins Wohnzimmer herunter geholt und dir hingebungsvoll und begeistert (auch darüber, dass die „ins-Bett-geh-Zeit“ mit Erfolg herausgezogen werden konnte) eine Menge wohltuender Streicheleinheiten geschenkt, die nicht nur dich zu erquicken schienen! So kam es oft im Quartett zu feierabendlichen, frohen Gesprächen, in welchen auch du deine entzückenden Zwitschertöne beigetragen hast.
An einem dieser Abende zeigtest du dich gar interessiert an jener Lektüre, die ich gerade am Lesen war. Denn mit einem Mal landetest du auf meinem just frisch gewaschenen Haar, was später dann eine Teilwäsche nötig machte! Ja, du bist ein kecker, sehr interessierter und beziehungsfreudiger Gast, der von der ganzen Familie innig geliebt und ebenso herzlich genossen wird.
Gestern schien es uns, dass du allmählich vom Büro an die frische Luft ziehen solltest, um für dein spannendes Vogelleben dazu zu lernen, was du einst in freier Vogelbahn dringend gebrauchen könntest. Entschieden uns für den Weg der kleinen Schritte. Ehrlicherweise nicht nur deinetwegen – wir brauchen wahrhaft auch noch etwas Zeit, um uns von dir zu verabschieden!
So stellten dich Vogelfreund und ich nach dem Mittagessen mitsamt deinem vertrauten Nestkorb, der Wasserschale und dem Töpfchen Insektenschrot auf den Tisch unseres Balkons. Gespannt, was in der Folge zu erleben sei. Nahm mir also Zeit, dich intensiv zu beobachten – und schon bald ging die Vorstellung los! Schienst wie elektrisiert zu sein von Sonne, Luft und nahem Vogelgesang und wurdest quicklebendig. Aufgeregt, von Freude übervoll, hüpftest du vom Korb Deiner Sicherheit heraus auf den fremden Tisch, spurtetest unzählige Male den langen Tischkanten entlang, emsig mit Schwanz und Flügeln wippend! Es war dir abzuspüren, dass du dich nur mit zwei Gedanken zu befassen schienst: „Soll ich - oder soll ich nicht? Kann ich – oder kann ich nicht?“ Gewiss an die zehn Minuten hat es gedauert, bis du zum mutigen, etwas stümperhaften Sprung und so was Ähnlichem wie „Flug aus den Wolken“ abhobst und erstaunt, immer noch äusserst aufgeregt und verwirrt obendrein am Boden zur Landung ansetztest. Mein kleiner Schatz, das Fliegen können wir dir leider nicht beibringen! Jeder hat halt seine Grenzen.
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